Aus dem Tagebuch einer Bäuerin – September 2006

Heute morgen scheint die Sonne schon früh durch die Wipfel des nahen Waldes. Im Tal liegt noch Nebel. Wie lange muss (darf) ich wohl noch die Blumen auf der Laube giessen – es scheint mir, in diesem Jahr wolle das Giessen kein Ende nehmen!

Ich starre fasziniert auf ein Spinnennetz, ganz fein und exakt ist es, einfach ein Kunstwerk. Nicht weit daneben hängt ein Spinnenfaden von einem Baum zum andern, die Tautropfen glitzern so, wie wunderbare Perlen an einer Schnur daran aufgereiht wären. Sofort muss ich an ein unvergessliches Erlebnis denken: Ich war damals ca. in der ersten Klasse. Meine jüngere Schwester und ich mussten Kühe in der Nähe unseres Hofes hüten. Plötzlich sah ich es ganz deutlich: Ein Engel hatte ein Haar verloren, als er den Haselnussstrauch streifte, ja dies war ganz sicher ein echtes Engelshaar, dessen war ich überzeugt. Ich rannte heim, um diese Neuigkeit unserer Mutter zu erzählen. Dori schrie mir hinterher: „Komm bald wieder, ich schaff es nicht alleine“! Atemlos erzählte ich Muetti von der wunderbaren Neuigkeit, doch sie lachte mich nur aus: „Was hast du für Fantasien, dies sind doch bloss Spinnweben!“ Ich war wie erschlagen, denn mir war, als hätte ich sicher auch noch einen ganz kleinen Teil eines feinen Engelflügels gesehen.

Ich erwache wieder aus meinen Träumereien, als unser Hund bellt und die Postbotin ankündigt. Aber merkwürdig, immer im Herbst habe ich solche „Spinnfäden“ im Kopf und richtige rings ums Haus. Heute bin ich aufgeklärt und weiss, dass sich im Herbst die Krabbeltiere an einem Faden von einem Objekt zum anderen durch den Wind tragen lassen – schade, die Geschichte mit den Engelshaaren wäre doch echt schön gewesen: So viele grosse und kleine Engelchen, die durch den Obstgarten schwirren und überall ihr feines Haar verlieren, das wäre doch eine Story für die Massenmedien und so erscheint halt meine Geschichte „nur“ auf der Landfrauenseite…!

Lydia Flachsmann-Baumgartner