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Ein ganzer Schwarm Engel

 

Es ist im Juni, ein sehr heisser Tag. Es ist zu heiss, um draussen zu arbeiten. Die Hochzeit unserer Tochter im Ausland steht bevor und ich suche nach Zeichnungen unserer Kinder. Wir möchten für das Hochzeitspaar ein Buch mit Kinderzeichnungen binden lassen. Ich finde sie auf dem Estrich in einer Kiste versorgt. Sie blieben sogar von den Mäusen verschont! Zeichnungen von vier Kindern, alle aufbewahrt und dies von allen neun Schuljahren, da ist wahrhaftig einiges zusammen gekommen. Ich sehe in Gedanken die ungelenken  Finger unserer Töchter, wie sie probieren, ihr Bestes aufs Zeichnungspapier zu bringen und denke dabei an meine eigene Schulzeit zurück. Es ist, als würde ich ob den gestellten Zeichnungsaufgaben in der Schule, wie zum Beispiel ein Selbstporträt, einen kleinen Seufzer hören.

Im Kindergarten waren sie besonders aktiv im Zeichnen, denn da konnte man sich als ein wenig scheues Hofkind in eine stille Ecke verziehen und hatte seine Ruhe. Doch auch zuhause wurde eifrig gezeichnet und gebastelt, galt es doch all ihre Erlebnisse und die Lieblingstiere wie Katzen und Hund aufs Papier zu bringen. Wie ein offenes Tagebuch liegen all die Kunstwerke vor mir. Ich staune: Da hat, unsere Tochter Andrea, welche in Australien lebt, bereits schon in der zweiten Klasse Kängurus mit einem Jungen im Beutel gezeichnet – hatte sie Visionen? Oder jeder Ausflug in den Zoo oder in den Zirkus wurde bildlich fest gehalten. Auch Geschichten von der Sonntagsschule wurden „verarbeitet“. Unsere Zweiälteste konnte schon während der Kindergartenzeit lesen und schreiben. Sie hat es sich selber beigebracht. Mitten in diesen Blättern finde ich in ungelenker Schrift der damaligen Erstklässlerin folgendes geschrieben: „Gott erschaft tie Welt. Gott hat ein groses reich und des Lebens. Gott schikt dir ein Schwarm Engel. die leute haben fil Streit. Aber er (Gott) hat sau fil freut“. Unterschrieben 17. Februar 1982 Andrea F.

Mir tropfen die Tränen über die Wangen, ja ich gebe zu ich habe Heimweh nach ihr, trotz der Emails und Telefonanrufe, denn jetzt ist sie am anderen Ende der Welt daheim. Mit ihrer lebhaften und quirligen Art hat sie uns bis ins Erwachsenenalter stets auf „Trab“ gehalten. Nach über zwanzig Jahren lässt sie mir einen ganzen Schwarm Engel schicken. Wahrscheinlich meinte sie eine Engelsschar, doch ist ihr sicher der Name „Schwarm“ von den Staren her bekannt, welche jeweils zu Hunderten in den Rebberg hinter unserem Haus einfliegen und sich an den Trauben gütlich tun oder sie dachte an einen Bienenschwarm. Nicht einen Engel lässt sie mir schicken, nein einen ganzen Schwarm, das könnten doch Tausende sein, unvorstellbar schön! Das ist wie Balsam für mein mit Heimweh geplagtes Herz, denn eine andere Tochter lebt auch schon seit vier Jahren in Holland. Ich muss lächeln und vor mir wird der schwitzende Krauskopf lebendig, ihr Kopf ist voller Locken und wie sie ungelenk den Stift führt – war es sogar ein Engel, der ihr dabei half und damals wusste, dass eine Mutter dies gerade nach 22 Jahren nötig hat? Eine grosse (Weihnachts)freude erfüllt mein Herz – wie kann man da nur noch traurig sein?!

Mir ist es an diesem sehr heissen Tag, wie Weihnachten zumute und ich muss Gott unmittelbar danken für die gesunden, gut geratenen Töchter. Damals nach der Geburt unseres vierten Mädchens wurde ich oft hochgenommen, wo denn der Sohn bleibe. Meine Hebamme hatte mir bei der Geburt gesagt: „Denken Sie immer daran, wenn sie wegen den Töchtern gehänselt werden: Es hat nicht jede Mutter und nicht jeder Vater vier hübsche Töchter“. Und übrigens hatte meine Mutter zuerst acht Söhne einen nach dem anderen geboren – erst das neunte Kind war das erste von vier Mädchen, die noch folgten. Wenn ich das für mich vorstelle! Zudem war ich schon damals überzeugt, dass Gott keine Fehler macht und das bestätigt sich heute Tag für Tag: Mit unserem mittelgrossen Landwirtschaftsbetrieb hätte ein Nachfolger nur schwer ein Auskommen gefunden.

Loslassen gehört zum Leben und muss gelernt sein. Ein jeder Lebensabschnitt hat auch wieder etwas Schönes und Positives. Es ist wie „Weihnachten“, wenn man die Verantwortung abgeben kann und die Kinder auf eigenen Beinen stehen.

Fröhliche Weihnachten!

Lydia Flachsmann-Baumgartner

Author: Lydia Flachsmann

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